Auf Kaffee und ein Stück Geschichte mit Rolf Werner

25. Januar 2023

Ein Gespräch mit dem Helden, den Bonstettens Geschichte braucht. 

Rolf Werner lebte nicht immer in Bonstetten. Erst 1980 zog der Bauingenieur nach Bonstetten, wo auch seine drei Söhne in die Schule kamen – und er selbst kaum zwei Jahre später Mitglied der Schulpflege wurde. Wir haben uns aber nicht zum Kaffee getroffen, um uns über die Schulpflege zu unterhalten: Rolf Werner ist der Autor mehrerer Bücher über Bonstettens Geschichte, die er gemeinsam mit seiner Frau Christine und seinem Sohn Tobias publiziert hatte, und die dank ihrem Schreibtalent und dem Auge seines Sohnes fürs Layout zum Gesamtprodukt werden. Dank diesem Team ist es möglich, zum Beispiel mehr über 900 Jahre Bonstetten 1122-2022, das Arbeitslager für Flüchtlinge Bonstetten 1943 – 1945, den Hof Isenbach Rotenbirben und weitere spannende Themen zu erfahren. Wie kam es dazu? Was war der Werdegang von Bonstettens passioniertem Dorfchronist und Archivar?

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Aller Anfang ist… unleserlich

Es ist nun trotzdem notwendig, zur Schulpflege zurückzukehren. Denn als Rolf Werner gebeten wurde, Mitglied zu werden, war gerade der Bau eines neuen Schulhauses in Planung, weshalb er mit seinem baulichen Fachwissen umso wertvoller war. In der Planungsphase ging es ihm nun darum, das Alter des Dorfschulhauses herauszufinden – und so begann der erste Einstieg in die Zeitzeugen Bonstetter Geschichte. Rolf tauchte tief in die Schularchive, suchte alte Protokolle und stellte schnell fest, dass sie für ihn nicht lesbar waren: Bis zur vorletzten Jahrhundertwende waren die Protokolle in alter Deutscher Schrift verfasst. Entmutigung kam aber nicht ins Spiel, und so begab er sich in die Zentralbibliothek und besorgte sich einen Schlüssel, welcher ihm über viele kommende Abende (und er lebt bis heute!) dazu diente, die Protokolle zu entschlüsseln. Er begann dazu dort, wo die Handschrift am schönsten war – in 1831 – und arbeitete sich von dort aus sorgfältig durch alle Protokollbände, übersetzte, nummerierte Seitenzahlen und erstellte ein Stichwortverzeichnis. Wenn man so bei der unleserlichen Handschrift wieder ankommt, hat man schliesslich schon genug Übung und Fähigkeit zum Entziffern, erklärt er.

So kam der Ball ins Rollen. Denn Herr und Frau Werner, engagiert und im Herzen des Dorflebens, hatten zehn Jahre lang die Seniorenferien organisiert, und hatten so ein Netzwerk im ganzen Dorf, welches viele Alteingesessene beinhaltete. Als man nun erfuhr, dass es jemanden gab, der alte Dokumente lesen und entschlüsseln konnte, kamen Anfragen, ob Rolf vielleicht alte Familiendokumente übersetzen könnte. Natürlich, denn dies ist gleich wie die Arbeit mit offiziellen Archiven: Solange die Sprache dieselbe bleibt, ist es kein Problem mehr für den Schriftexperten. Ein Dokument aus dem Jahr 1583, wie er erzählt, sei aber auch dank Leseschlüssel „übersetzt“ nicht lesbar, weil die deutsche Sprache damals ganz anders war; und wo Latein vorkommt, holt er gerne einen Freund dazu. Denn, wie er sagt: „Als Laie lerne ich immer dazu.“

Noch mehr zu lernen gab es dann 1998. Als die Bonstetter Kirche vor ihrer Renovation stand, trat Rolf der Kirchenpflege bei – ebenfalls besonders für sein Bauwissen geschätzt. Damals begab er sich in das ihm nun offenstehende Kirchenarchiv, und fand dort die versammelte Bonstetter Sozialgeschichte. Das älteste Stillstandprotokoll war aus dem Jahre 1666, und begann Jahrhunderte der sozialen Geschichte im Dorf. Der alte Begriff „Stillstand“ für Kirchenpflege kommt daher, dass sich die Stillständer nach dem Gottesdienst stehend vor der Kirche zusammenfanden um sich zu besprechen, bevor eigene Räume dafür zur Verfügung standen. So fand Rolf beispielsweise Dokumente, die die Geschichte der grossen Armut wiedergaben, welche die Kirche mit Gaben (z.B. von Kleidern) aus Zürich zu erleichtern versuchte, oder die menschlichen Konsequenzen des Dorfbrandes von 1783. Einen interessanten Kontrast bot das Jahr 1998 für Rolf jedoch auch mit dem 100-Jahre-Jubiläum der Wasserversorgung, die ihm ebenfalls ihr Archiv zur Verfügung stellten und um Recherche und eine Publikation baten – das Gemeindearchiv und Dokumente der Wasserversorgung boten die Fakten dort, wo das Kirchenarchiv die Menschen zeigte.

Und so bini drin gsi.

Das ist natürlich nicht das Ende von Rolfs archivalen Abenteuern. Besonders spannend ist aber vielleicht die Geschichte dessen, wie er zum Büchlein zur Rotenbirben kam – wussten Sie, dass dort früher eine Poststelle war? Aber lassen Sie uns vorne beginnen.

Mitte der 80er-Jahre wurde Rolf Mitglied der Gemeinnützigen Gesellschaft des Bezirks Affoltern und erfuhr so vom Neujahrsblatt, welches jährlich zu einem Thema des Bezirks – von Ortsnamen über Wälder bis hin zu Burgen – erstellt wird. Damals wurde dies von einer Person recherchiert und geschrieben und danach nur an die Mitglieder verschickt, in einem arbeitsintensiven und sehr hektischen Prozess. Rolf sah das Problem, und löste es gleich selbst: Wieso nicht eine Person durch ein Team ablösen, welches die Arbeit teilen kann, und das Neujahrsblatt an einem Neujahrsapéro an ein grösseres Publikum bringen? Es kam also, dass er für zehn Jahre zur Arbeitsgruppe Neujahrsblatt gehörte und den Apéro von den anfänglichen 15 Besuchern zu einem grossen Anlass entwickelte. So recherchierte das Team auch aus verschiedenen Archiven und vielen Dokumenten die Entwicklung der damaligen Gastronomie im weitesten Sinne, und seine Frau verfasste daraus die „Säuliämtler Wirtschaftskunde“.

Die Geschichte des Rotenbirbenbüchleins begann also nun damit, dass Albert Suter behauptete, es hätte in seinem Hof ein Postlokal gegeben. Man wusste auch, dass das Bauernhaus aus dem Jahre 1818 stammte, denn so besagten es Dokumente. Einige Jahre später, bereits nach dem Tod von Herrn Suter, kehrte Rolf zum Thema des Postlokals zurück. Er begab sich also ins Postarchiv nach Bern, wo er auf eine Karte stiess, auf der das Bonstetter Postlokal im Dorfschulhaus eingetragen war - wovon der Dorfchronist wusste, dass dies nicht stimmen konnte. Während seiner Recherchen zur „Säuliämtler Wirtschaftskunde“ hatte er erfahren, dass sich ein Postlokal bis zum Jahr 1864 immer in einer Beiz befunden hatte, wo sich der Postbote, der damals zu Fuss unterwegs war, auf dem Weg von Knonau nach Zürich verpflegen konnte. Mit dem Wechsel des Posttransports auf die Bahn 1864 wurde neu ein „Posthalter“ benötigt, der Pferd und Wagen besass, um die Post vom Bahnhof ins Dorf zu bringen. So einer war der damalige Bauer des Hofes Isenbach (Rotenbirben) und wurde zum ersten „Nicht-Beizer“ in Bonstetten, der dieses Amt innehatte – und die Rotenbirben wurde zum Standort des Postlokals.

Mosaiksteinli

Die Geschichte des Postlokals ist ein grossartiges Beispiel dafür, wie unser Dorfchronist sagt, dass Geschichte wie „Mosaiksteinli“ zusammenkommt und zu einem unerwarteten, faszinierenden Ganzen wird. Ähnlich ging es auch vonstatten, als eines Tages ein Anruf aus Frankreich in der Gemeinde Bonstetten ankam, und sich ein Herr nach noch vorhandenem Wissen über das einstige Arbeitslager erkundigte – und sofort war der Bonstetter Chronist wieder mitten im Geschehen. Obwohl er bereits vom Arbeitslager gehört hatte, begab er sich nun auf die Suche nach Genauerem.  Rolf durchkämmte Staats- und Bundesarchiv sowie das Archiv für Zeitgeschichte, fragte ältere Dörfler nach Erinnerungen, und so entstand – in Zusammenarbeit mit seiner Frau Christine - das Buch über das Bonstetter Arbeitslager des Zweiten Weltkrieges, dass wir heute kennen. Auf die gleiche Weise ist es auch zum 900-Jahre-Bonstetten-Buch gekommen, welches dank der Mitarbeit seiner Frau sowie zweier weiterer Autoren, Ernst Baumann und Arthur Glättli, entstanden war.

Rolf Werners Passion zum Mosaikspiel der Zeit ist eine, welche sich wie ein roter Faden durch sein Leben zu ziehen scheint: Die Familiengeschichte steht als nächstes auf dem Programm. Auch in seinem Beruf war er ein passionierter Verteidiger von Archiven: Sein Plan- und Foto-Archiv über sämtliche Schweizer Betonverkehrsflächen des Flug- und Strassenverkehrs reicht bis ins Jahr 1923 zurück. Sogar Bund und Kanton greifen gerne immer wieder auf sein Archiv zurück. Ich erfahre sogar, dass er in der Schweiz als „Betonkreiselpapst“ bezeichnet wird. Ich weiss jetzt, dass ich im 200. Betonkreisel der Schweiz, beim Jumbo in Affoltern am Albis, nach seinem Handabdruck suchen sollte. Rolf ist jetzt ein fast wortwörtlich in Stein gemeisselter bzw. in Stein gedrückter Teil der Säuliämtler Geschichte.

Dass Rolf Werner schon lange pensioniert ist – „theoretisch“, wie er sagt – merkt man kaum. Er ist ein grossartiger und engagierter Erzähler, sodass es nicht schwerfällt sich vorzustellen, wie er sein Publikum in verschiedenen Vorträgen mit in die Geschichte nimmt. Denn die Hingabe und Arbeit, die er damals wie heute in Archive, Geschichte, Strassenbau, Vorträge und Publikationen steckt, lässt seine ganze Geschichte von innen strahlen. Rolf besitzt heute ein Archiv von alten Fotographien Bonstettens, die er über Aufrufe von Einwohnerinnen und Einwohnern erhalten hatte, und die er selbst digitalisierte; noch in diesem Jahr plant er auch, seine Notizen und das Stichwortverzeichnis der alten Schulprotokolle auf Computer zu übertragen und der Schule zur Verfügung zu stellen. wie er dies auch mit anderen Archivmaterialien getan hatte. Und dieses Wissen trägt er mit sich, knüpft die Verbindungen und stellt das Narrativ wieder her, um das Mosaik am Ende mit uns zu teilen. Vielen Dank für Ihre Arbeit, Herr Werner. Und hoffentlich weiterhin viel Interesse und Spass.

 

Text:
Monika Ciemiega

Rolf Werner

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